Doppelt bestraft im Rollstuhl Drucken
Geschrieben von: Heiko Hilker   
Montag, 05. Juli 2010 um 02:34

Es galt 60 Jahre: Die Rundfunkgebührenbefreiung ist ein behinderungsspezifischer Nachteilsausgleich. Sie soll die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen ermöglichen, so der Präsident des Sozialverbandes Deutschland, Adolf Bauer. Denn Menschen mit Behinderungen können aufgrund ihrer Behinderung nicht in gleicher Weise öffentliche kulturelle Veranstaltungen und Angebote nutzen können wie nicht behinderte Menschen. Den Politikern war klar, dass diese Menschen in besonderer Weise auf die Angebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks angewiesen sind, um ihre gesellschaftliche Teilhabe verwirklichen zu können. Dies war der wesentliche Grund, sie von den Rundfunkgebühren zu befreien. Die Befreiung war bei ihnen auch nicht an das Kriterium ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit gebunden. Der Nachteilsausgleich wurde allein aufgrund der konkret vorliegenden Behinderung gewährt.

In den letzten Jahrzehnten kam auch niemand auf die Idee, die Gewährleistung barrierefreier Angebote im öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Begründung zu nehmen, um behinderte Menschen zur Zahlung zu verpflichten. Schließlich muss sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit seinen Angeboten an alle, an die gesamte Gesellschaft, richten und wenden. Er muss also barrierefreie und behindertengerechte Angebote machen. Jahrelang war es politisch nicht opportun, den Menschen mit Behinderungen diese zusätzlichen Kosten überzuhelfen und ihre Gebührenpflicht damit zu begründen. Doch anscheinend braucht man die zusätzlichen 42 Mio. Euro, die man sich durch diese Regelung erhofft. (Die Ministerpräsidenten rechnen mit über 580 000 zusätzlichen Zahlern.) Bisher galt, dass man mit seiner Gebühr nicht zielgerichtet bestimmte Programmangebote bzw. technische Umsetzungen bezahlt. Wer kann zudem überprüfen, ob die Mittel effektiv und zweckentsprechend eingesetzt werden? Und was ist, wenn sie nicht reichen? Endet am Beitrag der Menschen mit Behinderungen die Barrierfefreiheit? Wer so etwas macht, der ist nicht weit von einer anderen Debatte entfernt. Wenn Menschen mit Behinderungen die zusätzlichen technischen Kosten dafür tragen sollen, die Programme für sie spezifisch aufzuarbeiten, dann könnten andere Gebührenzahler fordern, dass die ihre Gebührengelder nur in die von ihnen gewünschten öffentlich-rechtlichen Angebote fließen. Mit diesem Ansatz schränken die Ministerpräsidenten die Freiheit der Anstalten ein. Doch warum wehren diese sich nicht gegen diesen Eingriff in ihre Freiheit? Weil es kein Eingriff in die Programmfreiheit ist? Oder weil sie die zusätzlichen Einnahmen gut gebrauchen können? Ist diese Regelung nur ein erster Schritt – wie bei der PC-Gebühr –, der im vollen Rundfunkbeitrag enden wird? Warum, so wird bald gefragt werden, sollen nicht Menschen mit Behinderungen auch den vollen Beitrag bezahlen, wenn sie sehr gut verdienen?

Wer heute 5,99 Euro als verminderte Gebühr einführt, muss sich verschiedenes fragen lassen: Wie kommt man gerade auf diese Abstufung? Warum gerade ein Drittel? Es gibt nur eine sinnvolle, nachvollziehbare Grenze: die Befreiung.

Noch 2004 lehnte der Chef der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz, Martin Stadelmeier (SPD) es ab, aufgrund eines Urteil des Bundessozialgerichts aus dem Jahre 2000 die Gebührenpflicht für Menschen mit Behinderungen einzuführen, Dieses Urteil bietet keine Grundlage für die Gebührenpflicht von Menschen mit Behinderungen. Deshalb hat man wohl auch 12 Jahre gewartet, es als Autoritätsbeweis herbei zu ziehen.

Wer so wie die Ministerpräsidenten argumentiert, der dividiert die Gesellschaft auseinander, der versucht, die verschiedenen Interessengruppen gegeneinander auszuspielen. Und – der hebelt Grundsätze der bundesdeutschen Gesellschaft aus. Absolute Gerechtigkeit kann es nicht geben. Wer behindert ist, der ist benachteiligt. Dem steht ein Nachteilsausgleich zu. Da macht es keinen Sinn, beim Einkommen zu differenzieren. Wer Einkommensgerechtigkeit herstellen will, der sollte dies nicht über die Rundfunkgebühr – von 17,98 Euro bzw. 5,99 Euro im Monat – versuchen. Dies wird nicht gelingen. Da ist eine Steuerreform gefragt.

Ungerecht ist auch, dass in Zukunft viele soziale Einrichtungen wie die „Betriebsstätten“ von Unternehmen behandelt werden sollen. Auch wenn sie im Gegensatz zu den Unternehmen, deren Zahlung von der Zahl der Mitarbeiter je Betriebsstätte abhängt, nur einen Rundfunkbeitrag bezahlen müssen, ist dies eine zusätzliche Belastung. Denn bisher waren sie von der Rundfunkgebühr befreit. Dadurch könnten kleine, ambulante Hilfeeinrichtungen gegenüber Großeinrichtungen deutlich schlechter gestellt sein. Doch wollen nicht Bund und Länder anstelle stationärer Großeinrichtungen verstärkt ambulante Angebote für Menschen mit Behinderungen schaffen?

Es zeigt sich einmal mehr: die große Reform der Rundfunkfinanzierung ist voller Widersprüche und sozial ungerecht.

 

 
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